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Infolge der digitalen Transformation und sich wandelnder gesellschaftlicher Anforderungen an nachhaltige Produktionsbedingungen in der Nutztierhaltung verändert sich die Arbeit in der Landwirtschaft. In diesem Kontext entstehen neue Herausforderungen, die sich verdichten, wenn das Thema Tierwohl in den Fokus einer nachhaltig ausgerichteten Landwirtschaft rückt. Ursprünglich manuell ausgeführte Tätigkeiten in der Versorgung von Nutztieren werden kontinuierlich automatisiert. Einerseits tragen diese Entwicklungen zu Erleichterungen im Arbeitsalltag von Landwirtinnen und Landwirten bei. Andererseits wird diskutiert, inwieweit die Folgen der Automatisierung eine Distanzierung beziehungsweise Entfremdung von den Tieren forcieren und der ohnehin vielfältige Tätigkeitsbereich von Landwirtinnen und Landwirten immer weiter intensiviert und spezifiziert wird (Hentschel & Frock, 2015). An dieser Stelle setzt das interdisziplinäre Entwicklungsprojekt "Tierschutzkompetenz – tierwohlorientierte Handlungskompetenz in der beruflichen Ausbildung" an, in dem das Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung (IfBE) der Leibniz Universität Hannover mit dem landwirtschaftlichen Bildungszentrum (LBZ) Echem und der Arbeitsgruppe Tierwohl des Thünen-Instituts für Ökologischen Landbau (TI) kooperiert (s. weiterer Online-Beitrag Dezember). Ziel des Verbundvorhabens ist es, Lehr-Lernkonzepte zu entwickeln, die den Erwerb einer tierwohlorientierten Handlungskompetenz in der überbetrieblichen Ausbildung ermöglichen. Die Förderung erfolgt durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), die Trägerschaft liegt bei der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE).

Auf der Basis einer Dokumentenanalyse der Ordnungsmittel für die landwirtschaftliche Berufsausbildung in Niedersachsen und empirischen Erkenntnissen aus qualitativen Interviews mit Auszubildenden und Ausbildungskräften in der überbetrieblichen Ausbildung werden hier Potenziale für eine Novellierung der Ordnungsmittel diskutiert. Dabei ist die Frage nach dem Stellenwert der aktuell geltenden Ordnungsmittel für die Berufsausbildung von Landwirtinnen und Landwirten leitend.

Aktuelle Regelungen

Grundlegend für die betriebliche und berufsschulische Ausbildung sind die Verordnung über die Berufsausbildung zum Landwirt/zur Landwirtin mit dem darin enthaltenen Ausbildungsrahmenplan sowie der Rahmenlehrplan. Angesichts der unterschiedlichen Geltungsbereiche der jeweiligen Ordnungsmittel gilt: Die betriebliche und überbetriebliche Ausbildung wird bundesweit in der Verordnung über die Berufsausbildung zum Landwirt/zur Landwirtin aus dem Jahr 1995 geregelt. Demgegenüber bildet der länderspezifische Rahmenlehrplan die Grundlage für die Qualifizierung angehender Fachkräfte in den berufsbildenden Schulen. Im Rahmen der föderalen Organisation der berufsschulischen Bildung können die Länder einen von der Kultusministerkonferenz (KMK) verabschiedeten Rahmenlehrplan "direkt übernehmen und zum Landeslehrplan erklären" (KMK 2021, S. 10). Alternativ dazu können eigene Landeslehrpläne entwickelt werden, die fachlich und zeitlich mit dem betrieblichen Ausbildungsrahmenplan abgestimmt sind.

In Niedersachsen wird der berufsbezogene Unterricht an Berufsschulen entsprechend des Rahmenlehrplans der KMK in der Fassung des Beschlusses vom 27. Oktober 1994 umgesetzt. Im Oktober 2023 hat das niedersächsische Kultusministerium eine Rahmenrichtlinie mit weiterführenden Mindestanforderungen für die Gestaltung der schulischen Ausbildung von Landwirtinnen und Landwirten erlassen. Darin wird zum einen die umfassende berufliche Handlungskompetenz als übergeordnetes Bildungsziel der Berufsausbildung berücksichtigt. Zum anderen flankieren die Grundsätze für die didaktische Gestaltung handlungsorientierten Unterrichts den Erwerb von berufsbezogenen Kompetenzen, wobei eine Verknüpfung von Theorie und Praxis in der modularen Struktur der Rahmenrichtlinie durch die Formulierung von Kompetenzzielen konkretisiert wird.

Novellierungspotenzial

Aus berufspädagogischer Perspektive weisen die bestehenden Dokumente angesichts aktueller ordnungspolitischer Standards der Berufsausbildung Novellierungspotenziale auf. Zum einen gilt seit dem Inkrafttreten des Deutschen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen (DQR) im Jahr 2012, die "Kompetenzorientierung [als] ein durchgehendes Prinzip aller curricularen Neuordnungsverfahren in den berufsbildenden Bildungsgängen" (Lindemann 2012, S. 102). Zum anderen entstehen mit der Digitalisierung und der Forderung nach einer nachhaltigen landwirtschaftlichen Produktion neue Herausforderungen der betrieblichen Organisation und auch neue Kompetenzanforderungen an die Beschäftigten. 

Trotz der grundsätzlichen Technikoffenheit in den bestehenden Ordnungsmitteln ergibt sich die Notwendigkeit einer Konkretisierung der Lerninhalte, damit der Erwerb einer umfassenden beruflichen Handlungskompetenz in einer zukunftsfähigen Ausbildung von Landwirtinnen und Landwirten sichergestellt werden kann. In Anlehnung an das in Berufsschulen verbreitete Lernfeldkonzept bietet sich zum Beispiel auch für den Rahmenlehrplan an, die Systematisierung von Tierhaltungssystemen in einem Lernfeld zur Qualität von Prozessen und Produkten in der Nutztierhaltung als dreidimensionales Konstrukt aus ökologischer, ökonomischer und sozialer Perspektive zu thematisieren.

Chancen für eine Novellierung der landwirtschaftlichen Ordnungsmittel liegen insbesondere in der Anwendung der modernisierten Standardberufsbildpositionen (Hackel & Bretschneider, 2023). Standardberufsbildpositionen werden als "bildungspolitische Steuerungselemente" (BiBB 2020, S. 1) in vier Themenbereiche differenziert. Im Einzelnen umfassen die Standardberufsbildpositionen berufsbildspezifische Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten zu: 

  • der Organisation des Ausbildungsbetriebes, Berufsbildung sowie Arbeits- und Tarifrecht
  • der Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit
  • Umweltschutz und Nachhaltigkeit
  • der digitalisierten Arbeitswelt.

Jenseits des übergeordneten Ziels der Berufsausbildung, dem Erwerb einer umfassenden Handlungskompetenz, bilden die Standardberufsbildpositionen ein "Fundament kompetenten Handelns" (Bretschneider 2021, S. 26). Entsprechend der Empfehlung des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung vom 17. November 2020 sollten die modernisierten Standardberufsbildpositionen auch in den Ausbildungsberufen umgesetzt werden, in denen sie noch nicht rechtsverbindlich verankert wurden. Inwieweit dies in der Ausbildung von Landwirtinnen und Landwirten erfolgt, ist gegenwärtig offen.

Bedarfe für die Umsetzung von Standardberufsbildpositionen in betrieblichen, überbetrieblichen und berufsschulischen Lehr-Lernsituationen werden beispielhaft an der Aussage eines Azubis im Beruf Landwirt/Landwirtin deutlich: "(…) aber wenn du das [Einstehen für Arbeitsrechte] bei deinem Chef auf dem Betrieb erwähnst, heißt es: ‚Ja, wenn du den Druck nicht abkannst, dann musst du gehen.‘ Deswegen sagen das viele nicht, aber ich kenne viele aus meiner Klasse, die sagen auch: 'Die zig-hundert Stunden, die wir im Monat machen, kann man mal einen Monat schaffen.' Aber das tut denen nicht gut. Auch wenn man Urlaub hat, wird man angerufen und dann wird gesagt: ‚Du musst jetzt herkommen (…)‘." (Azubi 01, Pos. 581ff.).

Angesichts dieser subjektiven Perspektive auf die Einhaltung von Arbeitnehmerrechten (Standardberufsbildposition 1) sowie die Arbeitsbedingungen der Berufsausbildung (Standardberufsbildposition 2) wird nicht zuletzt der zentrale Stellenwert von beruflichem Bildungspersonal für die Qualität der Ausbildung deutlich. So formuliert zum Beispiel ein Auszubildender: "Ich finde, an den Schulen ist das meiste abhängig von den Leuten, die unterrichten." (Azubi 03, Pos. 1193).

Aussagekräftige Ordnungsmittel, die neben kompetenz- und handlungsorientierten Lernfeldern auch gegenwartsbezogene umfassende Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten für die Berufsbildpositionen definieren, müssten auch die Grundlage für die Qualifizierung des beruflichen Bildungspersonals bilden. Zudem braucht es adäquate Angebote der beruflichen Weiterbildung, um den Professionalisierungsprozess landwirtschaftlichen Bildungspersonals zu flankieren (Becker et al., 2022; Meyer, 2020). Dies betrifft in Niedersachsen insbesondere eine akademische berufspädagogische Professionalisierung von Lehrkräften an berufsbildenden Schulen, die derzeit ausnahmslos als Seiten- und Quereinsteiger akquiriert werden.

Fazit und Ausblick

Mit einer Novellierung der betrieblichen und schulischen Ordnungsmittel (Ausbildungsordnung, Ausbildungsrahmenplan und Rahmenlehrplan) gehen vielfältige Potenziale einher. Dies betrifft neben der Umsetzung von Standardberufsbildpositionen auch die Realisierung einer Beruflichen Bildung für nachhaltige Entwicklung (BBNE) beziehungsweise Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) entsprechend des Beschlusses der KMK vom 9. Februar 2023. Qua Berufsbild zeichnet sich die Tätigkeit von Landwirtinnen und Landwirten durch "Umweltschutz und Landschaftspflege; rationelle Energie- und Materialverwendung" (§ 4, Abs. 1.5 Ausbildungsverordnung) aus. Gerade für die landwirtschaftlichen Berufe gilt, dass Ordnungsmittel "ein essenzieller Baustein für die Verankerung einer BBNE" (Hackel & Bretschneider, 2023, S. 223) sind.

Trotz gestaltungs- und technikoffener Formulierungen bedarf es einer laufenden Erneuerung von Ordnungsmitteln, damit gesellschaftliche, organisatorische und technische Veränderungen in der Berufsausbildung berücksichtigt werden. Modernisierte Ordnungsmittel können zum einen Lehrpersonal entlasten, da bereits "bei der Formulierung berufsspezifischer Ausbildungsinhalte […] Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten möglichst konkret zu formulieren [sind], um sie für die Praxis anschlussfähig zu machen." (Hackel & Bretschneider 2023, S. 234). Zum anderen können, ausgehend von veränderten Ordnungsmitteln, die Anforderungen an eine berufspädagogische Professionalisierung fundiert werden, sodass die Bildungsarbeit in die Richtung des Bildungsziels der umfassenden beruflichen Handlungskompetenz stärker fokussiert werden kann. Perspektivisch könnte so die digitale und ökologische Transformation gelingen.


Literatur

Becker, M. et al. (2022): Evaluation der modernisierten M+E-Berufe. Herausforderungen der digitalisierten Arbeitswelt und Umsetzung in der Berufsbildung. Ergebnisbericht und Handlungsempfehlungen. Bremen, Hannover, Köln, Schwäbisch-Gmünd.
Bretschneider, M. (2021): Fundament für kompetentes Handeln. In: B&B Agrar, 74. Jg., H. 1, S. 26-28.
Bundesinstitut für Berufsbildung (2020): Empfehlung des Bundesinstituts für Berufsbildung vom 17. November 2020 zur "Anwendung der Standardberufsbildpositionen in der Ausbildungspraxis". Bonn.
Hackel, M.; Bretschneider, M. (2023): Die Modernisierung von Ordnungsmitteln als Impuls für Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung. In: Pfeiffer, I./Weber, H. (Hrsg.): Zum Konzept der Nachhaltigkeit in Arbeit, Beruf und Bildung – Stand in Forschung und Praxis. Bonn.
Hentschel, T.; Frock, T. (2015): Wandel der Arbeit in der Landwirtschaft. Über die zunehmende Industrialisierung der Landwirtschaft und ihre Folgen für die Beschäftigungsverhältnisse. In: Agrarindustrie und Bäuerlichkeit – Der kritische Agrarbericht, 2015 Jg., H. 1, S. 69-74.
Kultusministerkonferenz (KMK) (2021): Handreichung für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit Ausbildungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe. Berlin.
Lindemann, H.-J. (2012): Den DQR als Reformimpuls in der schulischen Berufsausbildung nutzen – Perspektiven beruflicher Schulen im Bausektor. In: Büchter, K. et al. (Hrsg.): Der Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR) Ein Konzept zur Erhöhung von Durchlässigkeit und Chancengleichheit im Bildungssystem? Bielefeld.
Meyer, R. (2020): Professionalisierung, Professionalität und Professionalisierbarkeit. In: Arnold et al. (Hrsg.): Handbuch Berufsbildung. Wiesbaden.