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Beratende haben eine Vertrauensposition, deshalb nehmen ethische Aspekte ihrer Arbeit und ihrer Beziehungen im Beratungsprozess einen hohen Stellenwert ein. Nachfolgend werden fünf grundlegende Thesen zu ethischem Verhalten erläutert:

  1. Ethische Grundlage ist der Respekt vor Leben und Eigensinn des anderen Menschen.
  2. Verantwortung erwächst aus der Anerkennung der Andersheit des anderen.
  3. Beratung ist eine Unterredungskunst, die dialektisches Verstehen und dialogisches Handeln voraussetzt.
  4. Beratung folgt dem Subsidiaritätsprinzip und muss die eigenen Grenzen der Zuständigkeit kennen.
  5. Mehrdimensionalität, integrierte Versorgung, Care und Case Management können (ergänzende) Grundlagen von Beratung sein.

Respekt

Respekt meint dem Wortsinn nach: Zurückblicken. Die These zielt auf die Bereitschaft der Beratenden, historisch und kontextbezogen auf das Leben der Ratsuchenden wertschätzend (zurück)zublicken. Diese scheinbare Banalität beinhaltet einen Perspektivwechsel: Nicht die Normalität des Lebens der Beratenden und Organisationsvorgaben stehen im Zentrum bewertender Wahrnehmung, sondern die neugierige und offene Begegnung mit dem anderen.
Respekt vor dem Leben und Eigensinn der Ratsuchenden meint nicht, alles im Ergebnis gutzuheißen, was die Personen denken und wie sie handeln. Respekt beinhaltet vielmehr die Bereitschaft, sich verstehend den herausgebildeten Sinnstrukturen anderer Personen zu nähern, indem sie in ihrem biografischen und gegenwärtigen Kontext gesehen werden.

Akzeptanz

Beratung darf den anderen nicht zum Objekt machen. Der Umgang mit Menschen, die weniger wissen als die Beratenden, darf trotz asymmetrischer Kommunikationsebene nicht dazu führen, dass diese zum Objekt degradiert werden. Dieser der Philosophie von Emmanuel Levinas (2012) entnommene Grundgedanke entspringt seiner persönlichen Erfahrung mit dem Nationalsozialismus. Als jüdischer Mitbürger, der die Gräuel des Nationalsozialismus erlebt hat, hat sich Levinas die Frage gestellt, wie eine Philosophie formuliert werden kann, die die Würde eines jeden Menschen unbedingt wahrt. Er fordert, ausgehend von der letztlichen Nichtbegreifbarkeit des anderen Menschen in seiner Andersheit zu denken und zu handeln.

Der Anfang der 90er Jahre gedrehte Dokumentarfilm: "Der Pannwitzblick" thematisiert den gutgemeinten, professionell fürsorglichen Umgang mit Menschen mit Behinderung in den 1950er bis 1990er Jahren. Seit diesem Film steht der Begriff "Pannwitzblick" für das Synonym eines herabwürdigenden Blickes eines Professionellen auf eine Person mit Unterstützungsbedarf, der den anderen Menschen einordnet und abschließend wertet. Gerade die Professionellen zugeschriebene Macht der Wahrnehmung und Hilfeerbringung in dieser asymmetrischen Kommunikationssituation setzt Verantwortungsübernahme und Kompetenzen voraus (Mennemann, Dummann 2022, S. 193 ff). 

Einer Beratung liegt also kein letztliches Verstehen eines anderen Menschen zugrunde. Vielmehr meint Beratung im Prozess den Versuch eines sinnorientierten Verstehens (Hermeneutik), ein sich Hinwenden zum anderen, das Formulieren einer These und gegebenenfalls wieder die Abstandnahme von den eigenen Thesen im Dialog. Thesen, Zusammenfassungen und kommunikative Rückschleifen ("Habe ich Sie so richtig verstanden?", "Treffen die Vorschläge Ihr Anliegen?") erwirken partizipativ erbrachte Unterstützung. Im Zentrum von Beratung steht die Achtung der Autonomie des anderen Menschen und das Bemühen, dass sich die ratsuchende Person besser als zuvor selbst in die Kraft des Verstehens und teilhabeorientierten Handelns setzen kann (Empowerment).


Case und Care Management

Case Management bezeichnet eine bedarfsorientierte Steuerung ("Management") einer Fallsituation ("Case") zur Bewältigung einer personenbezogenen Problematik. Es erfolgt innerhalb einer Organisation und im regionalen Versorgungsgefüge. Damit ist Case Management ein das organisierte Verfahren und das regionale Versorgungsgefüge veränderndes Handlungskonzept, an dem unterschiedliche Professionen und Organisationen sektorenübergreifend beteiligt sein können.

Auf der Ebene organisierter Versorgung meint Care Management in Abgrenzung vom bedarfs- und personenbezogenen Case Management die Gestaltung personenunabhängiger Sorgestrukturen im regionalen Versorgungsgefüge (Netzwerkebene). Diese umfassen professionelle und informelle Hilfeformen (im Welfaremix). Care Management ist eine Voraussetzung des Case Managements (DGCC, 2020).


Dialektik

Beratung setzt die Fähigkeit des Dialektischen voraus. "Dialektik" heißt übersetzt Unterredungskunst (abgeleitet aus dem Altgriechischen) oder Kunst der Gesprächsführung (abgeleitet aus dem Lateinischen). In einer Beratungssituation trifft ein ratsuchender Mensch mit Biografie und Sinnorientierung (These) einen anderen Menschen, der andere Perspektiven und Kompetenzen einbringt (Antithese). Beide kreieren in diesem Moment einen Begegnungsraum mit neuen Inhalten, auf die beide "zugreifen" können. Diese Situation kann nicht durch eine Person (gelingend) gestaltet werden.

Grundlage einer professionellen Beratung ist die Feststellung des Bedarfs der ratsuchenden Person, die bereits das Ergebnis einer Aushandlung zwischen subjektiven Bedürfnissen und fachlicher Bewertung darstellt. Die fachliche Bewertung bewirkt einen Prozess der Veränderung; der andere Mensch wird zum Klienten gemacht (Klientelisierungsprozess). Beratung setzt voraus, den anderen Menschen bei Bedarfsfeststellung, Zielformulierung und auch bei der Maßnahmenbestimmung dialogisch zu beteiligen. Die dazu notwendigen Beteiligungsformen setzen vielfältige Selbsterfahrungs-, Sozial- und Kommunikationskompetenzen voraus. Beratung als dialektische Situation zu erkennen hilft, rollenklar sowie nicht bevormundend oder einseitig bewertend zu agieren.

Selbsthilfe

Im Beratungsprozess gilt das Subsidiaritätsprinzip. Subsidiarität meint die Nachrangigkeit professioneller Hilfe sowie das Recht der Personen mit Unterstützungsbedarf, ihr Leben zunächst selbst einzurichten. Was Menschen (mit erster Unterstützung) selbst können, sollen sie stets auch selbst tun (dürfen).

Auch im Prozess professioneller Beratung ist stets die Selbsthilfe im Blick zu behalten. Die Berücksichtigung dieses Aspektes setzt den Einsatz von (zum Beispiel motivationsfördernden) Kommunikationstechniken voraus, weil nicht wenige Menschen professionell Beratenden Verantwortung übergeben (möchten), die sie selbst tragen können und sollen.

Komplexität

In zusehends komplexen Hilfesituationen, in denen eine fachdienstliche Hilfe nicht ausreicht, ist eine Koordination professionell Helfender erforderlich. Häufig reicht eine bestimmte Perspektive einer Beratungsorganisation nicht mehr aus, die gesamte Hilfesituation zu erfassen. Dann ist es die Aufgabe professionell Beratender, sowohl die gesamte Hilfesituation grundsätzlich im Blick zu haben als auch integriert, und nicht nur additiv im Einzelfall zusammenzuarbeiten. Hintergrund sind der Pluralismus von Bewusstseins- und Lebensformen und die damit einhergehenden Individualisierungsprozesse. Die Handlungskonzepte Care und Case Management können hier hilfreich sein (s. Infokasten).


Literatur

DGCC (Hrsg.) (2020): Case Management Leitlinien, 2., neu bearbeitete Auflage 2020, S.2+4, Medhochzwei Verlag, Heidelberg.
Levinas, E. (2012): Die Spur des anderen: Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, hrsg. v. W. N. Krewani, 6. Auflage, Freiburg i. Breisgau.
Mennemann, H.; Dummann, J. (2022): Einführung in die Soziale Arbeit, 4. Auflage, Baden-Baden.